Energiewende - Die Abstimmung vom 21.5.2017 - Energiestrategie 2050

Wir brauchen dringend ein "Ja". Die PSR/IPPNW/CH (Physicians for Social Responsibility/International Physicians for the Prevention of Nuclear War, Schweiz) setzt sich für ein "Ja" am 21.5.2017 ein und Claudio Knüsli hat zusammen mit Jean-Jacques Fasnacht und mir einen Artikel in der Schweizerischen Aerztezeitung publiziert, der die Bedeutung der Energiewende für die menschliche Gesundheit beschreibt. Im Folgenden ist das am 10.5.2017 in der Schweizerischen Aerztezeitung publizierte Manuskript vollständig wiedergegeben.

Energiewende – wofür würde Rudolf Virchow stimmen?

Claudio Knüsli, Martin Walter, Jean-Jacques Fasnacht

 

Rudolf Virchow

Rudolf Virchow

«Soll die Medicin daher ihre grosse Aufgabe wirklich erfüllen, so muss sie in das grosse politische Leben eingreifen; sie muss die Hemmnisse angeben, welche der normalen Erfüllung der Lebensvorgänge im Wege stehen, und ihre Beseitigung erwirken.» Rudolf Virchow [1]

Rudolf Virchow (1821–1902) – welchem Arzt ist der hochangesehene Begründer der modernen Pathologie nicht vertraut? Am supraklavikulär gelegenen Vir­chow­ Lymphknoten, meist Ausdruck eines meta­stasierenden Malignoms, kommt auch heute noch kaum ein Medizinstudent vorbei.

Weniger bekannt ist, dass Virchow nicht nur Vertreter der streng naturwissenschaftlich orientierten Heil­kunde, sondern auch engagierter liberaler Politiker für eine sozial orientierte Medizin war. Er trat dafür ein, dass Ärzte Volkskrankheiten nicht nur erkennen, son­dern diese auch Staatsmännern zur Beseitigung anzeigen sollten [2].

Und geradezu visionär und auch heute modern ist Vir­chows Mahnung, der kranke Mensch sei als Ganzes aufzufassen [3].

Virchow – konfrontiert mit den damaligen Volks­krankheiten Cholera und Typhus – beriet als Hygieni­ker Regierungen und trat konsequent dafür ein, dass Berlin um 1870 eine Kanalisation und eine zentrale Trinkwasserversorgung erhielt. Ebenfalls auf Virchow geht die Einrichtung der ersten kommunalen Kranken­häuser in Berlin zurück. Diese Beispiele zeigen, dass für Virchow Medizin und politisches Engagement zusammengehörten, wo es um die zielgerichtete Veränderung schädlicher Umweltverhältnisse zu­ gunsten der Volksgesundheit ging.

Klimawandel ruft nach Energiewende

Unbestreitbar besteht heutzutage die grösste welt­weite medizinische Herausforderung im durch den Menschen verursachten Klimawandel. Saubere Luft, sichere Trinkwasserversorgung, genügend Nahrungs­mittel und ein Dach über dem Kopf sind jetzt und in Zukunft elementare Ressourcen, die Gesundheit erst ermöglichen. Sie alle sind durch den Klimawandel bedroht. Gemäss WHO ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahrzehnten jährlich Hunderttausende Menschen an den Folgen des Klimawandels sterben werden [4]. Die direkten medizinischen Kosten werden jährlich 2–4 Milliarden Dollar betragen. Hauptbetrof­fene sind bereits jetzt Menschen in Entwicklungslän­dern. Auch in unseren Breitengraden sind die Folgen für den Einzelnen mehr und mehr spürbar – besonders für Kleinkinder und ältere Menschen. Die Übergänge sind fliessend, von Befindlichkeitsstörungen bis zu le­bensbedrohlichen Krankheitszuständen, sei es durch Atemwegspathologien, Allergien, Hitzeschäden oder Veränderungen des Spektrums von Infektionskrankheiten.

Die Reduktion der Emissionen, insbesondere von CO₂ und anderen Treibhausgasen im Heizungs-­, Verkehrs-­, Transport­- und Nahrungsmittelsektor, wird ausschlag­gebend sein. Der steigende Energiekonsum fordert neue Lösungen. Gesundheitliche – ebenso wie ökologi­sche und wirtschafliche – Argumente verlangen eine zukunftsfähige Energiestrategie. Die anhaltenden Fol­gen der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima sowie die ungelöste Entsorgung der nuklearen Abfälle rufen dringend nach neuen Energieformen.

Energiestrategie2050 – aus medizinischer Sicht zu bejahen

Von Virchow haben wir gelernt: Ärzte sollen sich im Dienste einer ganzheitlichen, sozial engagierten Medi­zin auch in der Öffentlichkeit äussern und einsetzen. Das heisst, dass auch gesundheitliche Aspekte in der laufenden gesellschaftlichen Diskussion Gewicht er­halten müssen [5]. Welche Energiepolitik auch immer betrieben wird: Eine nachhaltige Verbesserung ist nicht zum Nulltarif zu erhalten. Die Kosten der Energiestrategie2050 sind im Verhältnis zu deren Nutzen mehr als nur moderat. Und davon profitieren kann erst noch primär die schweizerische Wirtschaft. Vielfältige Ansatzpunkte – vom Energiesparen im Gebäudebereich und im Verkehr über den Ausbau der erneuer­baren Energiequellen bis hin zum Atomausstieg – werden weiterführen. Bereits jetzt sind intelligente technische Lösungen im Solar­- und Windbereich mit den bisherigen Energien konkurrenzfähig. Diesen Ent­wicklungen gilt es nun – im Sinne von Rudolf Vir­chow – eine Chance zu geben, denn sie sind Voraussetzung für unsere Gesundheit. Mit einem Ja zur Energiestrategie am 21. Mai 2017 geben wir uns selber diese Chance – und noch wichtiger: unseren Kindern und Kindeskindern!

Literatur

1 Virchow R. Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin, Frank­furt, 1856, zitiert in 2. unveränderter Auflage, 1862, S. 56.

2 Virchow R. Die Epidemien von 1848, in: Virchows Archiv 3, 1. u. 2. Heft, 1851, S. 7.

3 Virchow R. Über die Heilkräfte des Organismus. Vortrag, gehalten am 2. Januar 1875 im Verein für Kunst und Wissenschaft zu Ham­burg. Berlin 1875, S. 15.

4 WHO – Climate Change and Health, 2016: http://www.who.int/ mediacentre/factsheets/fs266/en/

5 ÄrztInnen-­Komitee EnergiestrategieJA

Bildnachweis Wikipedia: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3ARudolf_Virchow.jpg

SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNGBULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2017;98(19):593–594